Chef(in)sache
Am 31. Oktober ist Mario Draghis Zeit als Präsident der Europäischen Zentralbank passé. Ihm folgt die Französin Christine Lagarde. Der Wechsel der Ex-Politikerin an die Spitze der europäischen Geldpolitik wird international mit Spannung verfolgt.
uristin, Wirtschafts- und Finanzministerin Frankreichs unter Nicolas Sarkozy, zuletzt Chefin des Internationalen Währungsfonds, nun erste Frau an der EZB-Spitze: Christine Lagarde übernimmt am 1. November die Leitung der zweitgrößten Notenbank der Welt, der Europäischen Zentralbank (EZB).
Ein international aufmerksam verfolgtes Novum: Schließlich steht damit erstmals kein Ökonom bzw. keine Ökonomin an der EZB-Spitze. Eine „konsequente Schlussfolgerung“ für den Chefanalysten der Raiffeisenbank International (RBI), Peter Brezinschek: „Mario Draghi war Ökonom mit politischer Ausrichtung, nun folgt ihm eine Politikerin mit ökonomischer Vernetzung.“
Blick in die Glaskugel
Dieser Umstand sorgt für Gesprächsstoff am internationalen Finanzmarkt, es wird derzeit über die künftige Geldpolitik unter Christine Lagarde spekuliert. „Ich erwarte, dass Lagarde in den ersten zwölf bis 24 Monaten die Geldpolitik Draghis fortsetzt“, meint Brezinschek. Dafür haben letztlich auch Draghis letzte Amtshandlungen gesorgt, mit denen er seinen lockeren Kurs weiter forciert. Expansive Geldpolitik und umstrittene Negativzinspolitik – dafür steht Mario Draghi. In seinen acht Jahren als EZB-Chef wurde der Leitzins kein einziges Mal angehoben. „Draghi versuchte bis zum Schluss, die EZB in seinem Sinne zu prägen und seiner Nachfolgerin den künftigen Weg möglichst lange vorzuschreiben“, lautet die Kritik des RBI-Analysten.
Im Rückspiegel
Doch Mario Draghi gebührt auch Anerkennung, schließlich war er es, der als Krisenmanager die Europäische Union durch die Finanz- und Staatsschuldenkrise führte. Während sich die Wirtschaft in den letzten Jahren aber von der Krise erholte, schaffte die EZB das nicht: „Die Notenbank verharrte im Krisenmodus“, kritisiert Brezinschek. Mario Draghi fehlte es an Visionen für die Zukunft. Vereinnahmt von der Politik, habe er es verabsäumt, eine Normalisierung der Geldpolitik mit einer Verbesserung der konjunkturellen Ausgangslage in Europa zu verbinden. Nun bleibt der Notenbank wenig Spielraum. Ähnlich wie bei ihrem Wechsel in den IWF übernimmt Lagarde die Führung nicht unter den einfachsten Umständen.
Zur Person
Peter Brezinschek ist Chefanalyst der Raiffeisen Bank International. Der Ökonom leitet den Bereich Raiffeisen RESEARCH, dessen Teams in Wien und in 13 Ländern Mittel- und Osteuropas die Entwicklungen in Wirtschaft sowie Devisen- und Kapitalmärkten analysieren und kommentieren.
Wunschzettel
Wünschen würde sich der Chefanalyst eine Umkehr der ultraexpansiven Geldpolitik: „Christine Lagarde sollte ihr wieder jenen Stellenwert geben, der ihr gebührt.“ Denn Geldpolitik sei kein alles lösendes Instrumentarium, sondern könne nur im Zusammenwirken mit vernünftiger Fiskal- und Wirtschaftspolitik funktionieren.
Das müsse Lagarde den Staats- und Regierungschefs in aller Deutlichkeit klarmachen. Und: Die neue EZB-Spitze müsse die Politik der Negativzinsen auf absehbarem Horizont beenden. „Das ist eine Erosion unseres marktwirtschaftlichen Systems“, formuliert der RBI-Chefanalyst. Auch angesichts internationaler Herausforderungen wie Klimakrise, Brexit und der US-Handelspolitik wäre eine starke Stimme an der Spitze der europäischen Geldpolitik wünschenswert.
Wie eine EZB unter Lagardes Führung aussehen soll, wird auch medial intensiv thematisiert. In allen wichtigen Zeitungen – von der Financial Times, dem Wall Street Journal über den britischen Guardian, Le Monde, La Repubblica bis hin zur Frankfurter Allgemeinen – wird über die nächsten Schritte der Französin gemutmaßt. Welchen Weg Christine Lagarde letztlich ab November einschlägt, wird sich aber ohnehin schon bald zeigen.
Christine Lagarde
Medial wird sie gerne als die Grande Dame der Finanzwelt bezeichnet: Christine Lagarde war erste Finanzministerin einer G7-Nation, erste Chefin des Internationalen Währungsfonds, bald ist sie die erste Präsidentin der Europäischen Zentralbank.
Dass die 63-jährige Französin keine Volkwirtin, sondern Juristin ist, wurde oft kritisiert. Seit mehr als zehn Jahren beweist Lagarde jedoch, dass sie internationale Organisationen managen, durch Krisen führen und zwischen Interessen vermitteln kann.
Vor ihrem Wechsel in die Politik 2008 leitete die zweifache Mutter eine der größten internationalen Rechtskanzleien und pendelte zwischen Paris, Hongkong und Chicago.