Über das Rad des Lebens
Er versteht sich nicht nur auf abschüssige Talfahrten,
der junge deutsche Radbergsteiger Harald Philipp ist auch ein
spannender, sich selbst erkundender Lebensphilosoph
und Glücksforscher. Unlängst sprach er auf Einladung von
Raiffeisen über das Phänomen Flow.
in konventioneller Lebensweg hat ihn nie interessiert, vermutlich weil ihm die eigene Mutter schon das entsprechende Quantum Abenteuerlust in die Wiege legte. Wenn ihm die Lehrer nahelegten, endlich erwachsen zu werden und sich für einen ernsthaften Beruf zu interessieren, sagte er einfach nur: „Nein, warum denn?“ Er wollte einfach weiterspielen dürfen und vor allen Dingen Rad fahren. Und so wurde er nicht nur zu einem der erstaunlichsten Radbergsteiger unserer Breiten, zu einem Trail-Abenteurer, der sich und sein Bike über halsbrecherische Klettersteige zu navigieren vermag, sondern vor allen Dingen zu einem Lebenspfadfinder und Geschichtenerzähler. Wobei sich Harald Philipp, der eigentlich aus dem deutschen Siegen kommt und in Innsbruck seine Bergheimat fand, nicht damit begnügt, seine spektakulären Touren – ob nun in den Alpen, in Island, im Himalaya und, ja, sogar in Nordkorea – einfach über eindrucksvolle Videoclips effektvoll zu präsentieren.
Pfadfinder und Geschichtenerzähler
So atemberaubend und schwindel-erregend schön die auch sind, man würde sich vermutlich schnell an ihnen sattsehen oder nach weiteren, noch spektakuläreren Abfahrten verlangen. Doch dieses banale Schneller-Höher-Weiter einer sich unentwegt selbst optimierenden Konkurrenz- und Leistungsgesellschaft war ohnehin nie sein Ding. Daher weigert er sich auch standhaft, seine Touren quasi „on the fly“ in den sozialen Medien zu dokumentieren. Harald Philipp verfolgt ein ganz anderes Ziel: Er möchte sein Publikum ermutigen, nach eigenen Trails in ein erfülltes Leben zu suchen. Wenig verwunderlich nennt sich sein neuestes Buch, mit dem er gerade auf Tour ist, „Pfadfinder“, nachdem er sich zuvor über einige Jahre mit dem Phänomen Flow auseinandergesetzt hat.
„Die wahren Entdeckungen finden sich immer außerhalb der Route.“
Harald Philipp, Lebensphilosoph und Glücksforscher
Das Glück im Flow
Flow ist in gewisser Weise die Basis und vermutlich auch einer der tauglichsten Wegweiser in ein sinnerfülltes Leben. Der Begründer der Flow--Theorie Mihály Csíkszentmihályi,
der dieses Phänomen ursprünglich bei Künstlern und Chirurgen erforschte, beschrieb Flow als das beglückend erlebte Gefühl eines mentalen Zustandes völliger Vertiefung und restlosen Aufgehens in einer Tätigkeit. Ein Mensch im Flow ist also einerseits ganz bei sich und wirkt andererseits über sich selbst hinaus. Denn im Flow lassen sich Dinge und Ziele erreichen, die man sich im Normalzustand gar nicht hätte ausmalen können. Im Flow ist man also im Vollbesitz seiner schöpferischen Möglichkeiten, gleichzeitig aber so präsent und wachsam, dass man eben auch um seine Grenzen weiß.
Die eigenen Grenzen kennen
Auch wenn es angesichts der Abgründe, denen sich der Extrembiker aussetzt, kaum zu glauben ist: Harald Philipp hat tatsächlich Höhenangst und auch vor laufenden Kameras keinerlei Scheu, jederzeit von seinem Rad abzusteigen, wenn sein Bauchgefühl ihm das anrät. Dieses unprätentiöse Eingestehen seiner Grenzen macht ihn nicht nur zu einem ungemein sympathischen Vortragenden, sondern auch zu einer besonderen Leitfigur. „Ich bin mir meiner selbst bewusst“, sagt er, „dessen, was ich kann, und dessen, was ich nicht kann.“ Denn erst dadurch sei er in der Lage, richtige Entscheidungen treffen.
Flow – ob nun am Rad oder vor dem Computer – sei eigentlich unabdingbar für ein erfülltes Leben. Umso erschreckender, dass vielen Menschen diese so ungemein schöpferische (und eben nicht konsumistische) Form des Glückserlebens und der Selbstvergewisserung im erwachsenen Leben abhandenkommt, was möglicherweise auch die konstant steigenden Burn-out-Raten erklärt.
Settings für Flow gestalten
Es gebe zwar keine Formel für Flow, sagt Harald Philipp, aber Umstände, unter denen sich garantiert keiner einstellen könne. Wie etwa ständige Störungen oder wenn einem die Möglichkeit genommen werde, selbst Entscheidungen zu treffen. Daher sollte man im Arbeitsleben viel mehr Sorgfalt auf die Ausgestaltung des Prozesses legen und nicht nur die zu erreichenden Ziele im Auge haben. „Auch auf meinen eigenen Trails ergeben sich die wahren Entdeckungen immer abseits der zuvor geplanten Route“, erzählt er. Sein eigenes Lebens- und Flow-Rezept: Spielen statt kämpfen, am äußersten Rand der Komfortzone immer wieder Neues ausprobieren, auf den Weg und nicht in den Abgrund starren, Frechheit und Demut geschickt ausbalancieren, selbstverantwortlich kooperieren. Und ganz wichtig: die Muße zurück ins Leben holen.
Text:Christine Frei