Krise als Chance: Die Philosophin

Freundschaft mit der Unsicherheit schließen

Natalie Knapp ist Philosophin und als solche eine Expertin für das
Große und Ganze. Bereits vor fünf Jahren hat sie mit „Der unendliche Augenblick“ ein Buch geschrieben, das aktueller nicht sein könnte. Denn größer als jetzt war die kollektive Unsicherheit vermutlich noch nie.

Foto: Gaby Bohle
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chon seltsam und wohl auch bezeichnend, dass einem bei Interviews und Gesprächen in diesem Jahr immer wieder dieselben Sätze begegnen. Bei Natalie Knapp, Philosophin aus Berlin, ist das nicht anders. So hätte sie ohnehin nicht weitermachen wollen, resümiert sie zu Beginn, als ich sie auf den erzwungenen Stillstand anspreche, der ja Vortragende und Autor/innen ähnlich hart trifft wie die gesamte Kultur- und Veranstaltungsszene. „Ich möchte in Resonanz mit der Welt leben, die mich umgibt“, erklärt sie. Das sei ja auch elementar für ihren Beruf, aber nicht mehr möglich, „wenn wir uns nur noch im Erledigungsmodus befinden“. Im Gespräch erklärt sie mir: In einer Ereigniszeit wie der jetzigen seien die üblichen Handlungsautomatismen außer Kraft, da seien wir angehalten, nur noch das zu tun, was im Moment getan werden kann und getan werden muss. Das ist für viele Menschen schwer auszuhalten, was auch den stetig wachsenden Widerstand oder so manche fast trotzige Verweigerungshaltung zu erklären vermag.

Eine dritte Zeitperspektive

Als Knapp vor fünf Jahren ihr Krisenbuch „Der unendliche Augenblick“ auf den Markt brachte, war die Resonanz eine ganz ähnliche. Die einen empfanden ihre Ausführungen als erhellend, die anderen wollten sich mit dem Thema Krisenzeiten schlichtweg nicht auseinandersetzen. In ihrem Buch kommt Knapp zum Schluss, dass Zeiten der Unsicherheit ungemein wertvoll seien, und skizziert dies etwa an den Übergangszeiten im Jahreskreis oder den besonders lebensintensiven Rändern in der freien Natur, wie dies etwa Hecken sind. 

„Ich möchte in Resonanz mit der Welt leben, die mich umgibt.“

Natalie Knapp, Philosophin aus Berlin

Sie schlägt dann den Bogen zu den verschiedenen Lebensabschnitten, die ebenfalls an keinem von uns spurlos vorübergehen, spricht vom Wagnis der Geburt, der Pubertät als Kreativitätslabor, der Wandlungskraft der Trauer, dass man ein Stück weit sterben lernen muss, um sich das Leben neu erschließen zu können. Sie schreibt über die Kunst, die Perspektive zu wechseln, von Krisen, die den Geist befreien, und plädiert für ein neues Zeitbewusstsein. Darin geht es ihr, die auch Quantenphysik wie keine Zweite zu erklären vermag, um die sogenannte dritte Möglichkeit neben dem rationalen und dem mythologischen Zeitbewusstsein. „Die Zeit läuft nicht weg, sagt diese Perspektive, wir können uns Zeit lassen, um immer tiefer zu verstehen, aber wir müssen trotzdem handeln. Wir müssen beide Qualitäten der Zeit im Auge behalten“, so Knapp, die in ihren Vorträgen empfiehlt, Freundschaft mit der Unsicherheit zu schließen, was gerade in der jetzigen Zeit eine wertvolle Handreichung sein kann. Wenn man sich da-rauf einzulassen vermag, denn Zeiten wie diese widersetzen sich der klassischen Managementattitüde. Einen Satz wie „Nicht wir nutzen die Zeit, die Zeit nutzt uns“ muss der kleine Machbarkeitsgott in einem jeden von uns erst mal aushalten. Trotzdem kann man der Einschätzung der Süddeutschen Zeitung nur zustimmen, die auch im Klappentext steht: „Nach zwei Stunden mit Natalie Knapp fühlt man sich viel aufgeräumter.“

4 Fragen an 

Natalie Knapp

Philosophin aus Baerlin

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rau Knapp, welchen Umgang mit der Krise würden Sie uns als Philosophin, als Expertin für das Große und Ganze raten? Natalie Knapp:Die größte Gefahr in einer Krise besteht darin, dass man sich zu lange wünscht, alles möge wieder so werden wie vorher, und zu viel Energie investiert, damit sich möglichst nichts bewegt. Aber das Potenzial der Instabilität liegt gerade darin, dass sie Bewegung erzeugt und Veränderungen ermöglicht. Es geht also gar nicht darum, jetzt schon zu wissen, wie es anschließend weitergehen wird, sondern darum, die Zeit der Krise zu nutzen, um in eine größere Offenheit hineinzuwachsen.

 

Der Tiroler Zukunftsforscher Harry Gatterer, mit dem Sie auch häufig zusammenarbeiten, sagte uns im letzten kompakt-Interview, dass Zeiten der Krisen besonders innovative Zeiten sind. Sehen Sie das auch so? Absolut, in Krisenzeiten kann sehr viel mehr bewegt werden als sonst, weil alle Beteiligten die Notwendigkeit für ungewohnte Lösungen und kreative Wendungen erkennen. Durch die Klimakrise leben wir ohnehin in einer Zeit, in der sich sehr viel bewegen muss, damit die Menschheit zukunftsfähig bleibt. Aber bislang ist viel zu wenig passiert, weil niemand gerne seine Gewohnheiten verändert. Daher ist es eine riesige Chance, die Anschubenergie der Coronakrise zu nutzen, um längst fällige Veränderungen für ein nachhaltigeres Leben und Wirtschaften anzustoßen.

„Der unendliche Augenblick“ 

von Natalie Knapp

Erschienen im Rowohlt Verlag, 2015

Wird uns diese Krise tatsächlich verändern? Die Erfahrungen, die wir jetzt machen, werden uns prägen und uns anders auf die Welt blicken lassen. Meine größte Hoffnung besteht darin, dass wieder mehr Menschen begreifen, dass wir als menschliche Gemeinschaft nur überleben können, wenn wir aufeinander Rücksicht nehmen. Der Wert von Umbrüchen bemisst sich nicht daran, ob wir anschließend mehr oder weniger erfolgreich sind, sondern daran, ob wir in solchen Momenten lernen, unser Leben nach anderen Kriterien zu bewerten. Denn zu keiner anderen Zeit ist es leichter zu entdecken, was in unserem Leben wirklich zählt. Krisen und Umbrüche aktivieren unser schöpferisches Potenzial und lassen uns Entdeckungen und Erfahrungen machen, die uns in ruhigeren Jahren Halt und Richtung geben.

 

Ähnlich wie bei Harry Gatterer ist auch für Sie Resonanz ein ganz wichtiger Begriff für Ihren Zugang zu einem bewussten Leben. In unserer jetzigen Zeit, gerade in der Pandemie, hat sich vieles in die virtuelle Welt hineinverlagert. Auch dort offenbart sich eine große Sehnsucht nach Resonanz … Was wir dort erleben, würde man wohl eher emotionale Ansteckung nennen. Ein Gefühl oder eine Stimmung überträgt sich auf mich und bringt mich dazu, den Impuls oder die Nachricht ungefiltert weiterzugeben. Bei der Resonanz geht es aber nicht um emotionale oder intellektuelle Kettenreaktionen, sondern um eine ganz persönliche Beziehung zu Menschen oder anderen Lebewesen, die mir am Herzen liegen, aber auch zu Dingen und Tätigkeiten, die mir am Herzen liegen, oder zu größeren Wirkungszusammenhängen wie etwa die Natur, die Kunst, Geschichte oder Religion. In Resonanz zu sein bedeutet, auf eine tiefe und umfassende Art in Beziehung zur Welt zu sein, für dieses Beziehungsgefüge Sorge zu tragen und es lebendig zu halten. Etwa indem ich mich mit einem Menschen auseinandersetze, mich in der Natur bewege, Musik mache, einen Schrank baue oder meine Wohnung aufräume. Von außen kann man nicht unterscheiden, ob jemand seine Wohnung aufräumt, weil er in Resonanz mit der Welt ist, oder ob er das nur abarbeitet und erledigt, damit es anschließend sauber ist. Aber von innen fühlt es sich ganz anders an. Und dasselbe gilt natürlich auch für jede andere Tätigkeit.

 

 

Christine Frei

Zur Person

Natalie Knapp ist Philosophin, Autorin und Rednerin. Sie ist Gründungsmitglied des Berufsverbandes für philosophische Praxis und Mitglied verschiedener Expertengremien. Ihre Bücher »Der unendliche Augenblick« (2015), »Kompass neues Denken« (2013) und »Der Quantensprung des Denkens« (2011) sind bei Rowohlt erschienen. Knapp lebt und arbeitet in Berlin.